🎨 Eindrücke
Ich habe Scheerers vorige zwei Bücher gelesen und seinen Werdegang sowieso lose verfolgt, seit ich ihn zu Schulzeiten mit seiner damaligen Punk Bank “Am kahlen Aste” habe live auftreten sehen. Ein einschneidendes Erlebnis für mich damals, und nicht ganz unschuldig daran, dass ich selbst daraufhin auch Gitarre lernen und eine Band gründen wollte – was ich auch tat.
Als er dann tatsächlich einen Plattendeal bekam und seine Band auf MTV/VIVA zu sehen war und auf Tour ging, war die Hochachtung natürlich noch größer. Die Karriere war zwar kurz, aber später machte er sich dann als Toningenieur und Musikproduzent einen Namen und lief mir anfangs auch immer mal wieder über den Weg, weil er befreundete Bands in seinem Container-Studio aufnahm, oder dann zufällig sein Vintage Studio “Clouds Hill” im Geschoss über der damaligen Wohnung eines engen Freundes einrichtete. Ich schrieb ich mal an und wir kamen in ein lockeres Gespräch – stellt sich raus, dass er vier Söhne hat; der Witz lag auf der Hand, da ich ja vier Töchter habe.
Sein bewegtes Leben abseits der Musik hatte er in den beiden Büchern “Wir sind dann wohl die Angehörigen” und “Unheimlich nah” erfolgreich zu Papier gebracht: Als Sohn des Tabakkonzernerben Jan-Philipp Reemtsma hatte er als Teenager die dramatische Entführung des Vaters miterleben müssen und seitdem sein ganzes Leben mit Personenschutz verbracht.
Es gab immer mal wieder Interviews mit Scheerer zu lesen, die ich meist verfolgte. Besonders prägend war, dass ich eines Tages mitbekam, dass der britische Rockstar Pete Doherty sich Scheerers Clouds Hill Tonstudio in Hamburg-Rotenburgsort für die Produktion seines neuen Soloalbums ausgesucht hatte. Auch Omar Rodriguez-Lopez und Cedric Bixler-Zalava von den Bands “At the Drive-In” sowie “The Mars Volta” gingen plötzlich in Hamburg bei ihm ein und aus und Clouds Hill veröffentlichte die Ergebnisse. Von Letzteren war und bin ich ein großer Fan.
Wie kam das? Das Studio hat einen USP, und zwar die analoge Aufnahmetechnik. Fast überall anders wird digital produziert und mit Software um sich geworfen, aber nicht bei Scheerer. Er setzt ganz bewusst auf die alten Technologien wie Magnetbänder und analoge Konsolen statt Laptops. Das wird nicht alles sein, was ihn ausmacht, aber spannend ist es. Und wenn er damit Hamburg zu einem Anlaufpunkt für Weltstars macht, was er offensichtlich tut, umso besser.
Er sprach mal davon, dass er die zwei vorigen Bücher “aus dem Weg schreiben” musste, damit er das Buch schreiben kann, dass er eigentlich schreiben will. Mit der besonderen Familiengeschichte mehr als verständlich. Dieses Buch scheint das zu sein, was er im Blick hatte.
Es ist eine Autofiktion, die tatsächlich von der Zeit handelt, als der legendäre Pete Doherty vor seiner Tür stand. Im Roman heißt er “Ian White”, aber anhand der Artikel aus der Zeit, die ich damals gelesen habe, war mir sofort klar, dass es um Doherty geht.
Vom Buch Launch habe ich übrigens durch eine tolle Lesung erfahren: Scheerer selbst las in der Laeiszhalle aus diesem neuen Werk vor, aber nicht allein: Begleitet wurde er von keiner Geringeren als der legendären Anke Engelke. Diese Dame war und ist einfach top. Im Hintergrund war des weiteren eine Live Band positioniert, die hier und da das ca. zweistündige Programm aufbrach. Eine einmalige Veranstaltung, leider wirklich einmalig, die mich sofort dazu bewegt hat, das Buch zu kaufen.
Kommen wir zum Inhaltlichen. Ich habe eine Hassliebe mit diesem Buch. Es ist sehr stark geschrieben, das steht außer Frage. Die behandelte Story ist sehr interessant, vor allem wenn einem klar ist, dass das meiste sehr nah an der Realität gewesen sein muss. Johann heißt zwar Dave, lebt in Berlin statt in Hamburg, hat vier Kinder, die aber nicht alle Jungs sind, und das Soloalbum von Ian White heißt “Berlin Serenades” anstatt “Hamburg Demonstrations”, wie Doherty’s Werk in der Realität heißt.
Doherty’s Drogensucht zum damaligen Zeitpunkt ist ein offenes Geheimnis, über seine hier dargestellte Egozentrik kann man nur mutmaßen – wobei es sich alles sehr stimmig anfühlt. Das ist natürlich das große Thema bei solchen Autofiktionen: Was ist nun wirklich so gewesen, was nicht?
Ich habe das Buch in ziemlich kurzer Zeit durchgelesen, es hat mich in seinen Bann gezogen.
Warum dann aber Hassliebe?
Das Buch handelt gleichberechtigt zur Doherty-Story nämlich davon, wie Dave/Johann sein Leben mit vier kleinen Kindern währenddessen hinbekommen muss. Wie er versucht, ein guter moderner Vater zu sein, der sich in allen dazu gehörigen Bereichen mindestens als gleichberechtigt zur Mutter sieht und verhält, während er aber gleichzeitig einen drogensüchtigen und höchst wackeligen Weltstar betreuen muss, um beruflich auf festem Boden stehen zu bleiben. Die Frage, die unter allem schwebt, ist natürlich: Wessen Bedürfnisse sind schwieriger zu versorgen, die von vier kleinen, irrational und ganz normal von niederen Instinkten gesteuerten Kleinkindern, oder die eines drogensüchtigen und abgehobenen Rockstars?
Es hat mich fertig gemacht, das Buch zu lesen, weil mein eigenes Leben so dicht da dran ist. Zwar hatte ich nie mit drogensüchtigen Weltstars zu tun, aber der ständige Stress und Druck als Chef meiner Firma über 12 Jahre während die Kinder klein waren, gleichzeitig aber Angestellte und Kund:innen ständig sogar noch mehr Aufmerksamkeit forderten, hat mich so viele im Buch dargestellte Situationen so sehr nachfühlen lassen. Ich blicke jetzt mit etwas Abstand darauf zurück – vor zwei Jahren habe ich meine wichtigste Firma verkauft, und die vier Kinder sind älter und jetzt als Hausmann sind die Aufgaben und der Stress dadurch gesunken und haben sich verändert. Mir war aber nicht klar, wie sehr mich diese intensive Phase damals mitgenommen hat, bis Scheerer es hier so hart aufgezeigt hat. Wenn man mittendrin ist und einfach von Tag zu Tag kämpfen muss und irgendwie durchhält, gibt es keine Zeit für diese Reflexionen.
Szenen, die er beschreibt, habe ich teilweise 1:1 genau so erlebt. Wichtiger Kunde ruft an während ich die Kinder zur Kita bringe, mit dem Handy am Ohr wird realisiert, dass das Turnzeug vergessen wurde, Kind weint, schnell nach Hause weil Beruhigung nicht möglich ist, verständnislosen Kunde vertröstet, mit Turnzeug wieder zur Kita, dort zu spät ankommen, daher abfällig vom Erzieher als Langschläfer tituliert werden, dann erfahren, dass Turnen ausfällt und der Beutel gar nicht nötig war, Kunde ruft erneut an, ist gereizt, fragt warum sich denn nicht die Mutter um die Kinder kümmert, dann kommt der Anruf, dass ein anderes Kind krank ist und in der Schule sofort abgeholt werden muss, Angestellter liefert währenddessen Arbeitsergebnisse ab die gar nicht dem Besprochenen entsprechen aber in zwei Stunden an den Kunden gehen müssen, und so weiter und so weiter. Wie oft war ich der Panikattacke nahe. (Um die Frage nach der Mutter zu beantworten: In meinem Falle arbeitet sie als Ärztin, über die Jahre in verschiedenen Rollen, u.a. auch im Schichtdienst in der Notaufnahme; im Falle Scheerers, bzw. des Protagonisten Daves, ist sie mit einem Surfer-Typen nach Portugal ausgebückelt.)
Scheerer und ich als selbstständig arbeitende fürsorgliche Väter haben uns eigentlich einfach nur mehr Verständnis gewünscht, aber in der heutigen Zeit bekommt man die als Vater, der an der Erziehung beteiligt ist, einfach von niemandem. Enge Freundschaften wären eine Möglichkeit, aber dafür in diesem alltäglichen Chaos die Zeit zu finden grenzt an Unmöglichkeit. Diese Machtlosigkeit, das ständige Aushalten, der typische Mangel an Selbstbestimmtheit im Leben, es fühlte sich teilweise wie ein Gefängnis an. Gerade, wenn man wie der Protagonist hier nicht nur einem normalen Bürojob nachgeht, sondern eine Leidenschaft hat, die man verfolgen möchte, aber immer wieder daran gehindert wird. Immer weiter wird die Flamme erstickt. Dave bzw. Johann schafft es zwar im Buch durch diese Zeit, so wie ich es auch geschafft habe, aber ich bin beim Lesen oft melancholisch und auch einfach traurig geworden.
Es gibt aber auch viele tolle Momente, die aus diesen dramatischen Situationen entstehen. Scheerer hat greifbare Analysen und schlaue Einsichten, die er mitteilt. Manchmal auch einfach knackige gute Sprüche. Ab und zu, wenn er im Buch in Interaktionen mit anderen verständnis- und empathielosen Menschen interagiert, freue ich mich darüber, wie schlagfertig und gut er reagiert. Das würde ich so gerne auch können. Meine Vermutung ist, dass er das vielleicht ähnlich wie ich erlebt hat, und eben keine perfekte schlagfertige Retourkutsche im jeweiligen Moment parat hatte, sondern das Buch auch dafür genutzt hat, sich diese kathartisch von der Seele zu schreiben. Ich mache das ständig im Kopf abends im Bett, wenn mir die Dinge, die mir am Tag an den Kopf geworfen worden sind, nochmal vom Gehirn zum Durchkauen nach oben gedrückt werden. Vielleicht sollte ich das auch einfach mal Aufschreiben – nicht zum Veröffentlichen, aber zum Loswerden.
Ich wüsste gerne, wie andere Menschen das Buch sehen, die eben nicht wie ich in einer ähnlichen Situation selbst gesteckt haben. In einigen Rezensionen habe ich immerhin schon gelesen, dass zumindest das “Mühsal der Fürsorgearbeit” korrekt als Thema erkannt wurde. Das ist doch schon mal ein Anfang.
Schön ist auch, dass das Buch sich nach dem chaotischen Höhepunkt der USA-Tourbegleitung mit Familie nach und nach zu einem hoffnungsvollen Aufschwung wendet. Hier wüsste ich gerne, ob Scheerer das mit seinen Kindern tatsächlich mitgemacht hat, oder ob es sich um einen der fiktiven Teile handelt. So oder so scheint das Pendel vom einen Extrem danach aber wieder zurückzuschwingen, die Dinge beruhigen sich, mehr Stabilität kehrt ein. Die Stabilität, nach der sich alle Beteiligten so sehr sehnen, die man sich erst aber hart verdienen muss.
📔 Highlights
Ich spüre die Wut in mir hochsteigen. Die Wut über so viel Ignoranz dem Familienleben gegenüber. Hat Ian wirklich gerade gesagt, dass er mir jetzt Zeit zum Relaxen mit der Familie gibt? Als sei Kinderaufziehen nicht der nervenaufreibendste Job der Welt. Als sei es ein einziges Pudern der Seele, Gammeln auf dem Sofa und Toben im Wald. Als sei das Elternsein nicht getränkt von ständigen Selbstzweifeln, Minderwertigkeitsgefühlen, toxischen Vergleichen, fehlenden Vorbildern, extremer körperlicher wie emotionaler Anstrengung und fehlender Anerkennung von allen Seiten.
Doch wenn man ans Ende denkt, erreicht man es nicht. Den Merksatz kenne ich von Bands, die auf monatelange Tourneen gehen. Wenn man die Tage zählt, hält man sie nicht durch. Wenn man ans Ende denkt, erreicht man es nicht. Die goldene Regel auf Tour und bei chronischen Schmerzen: Einfach jedem Tag eine neue Chance geben. Jede schmerzfreie Minute zelebrieren, als könnte sie für immer anhalten.
»Die Ansprüche an moderne Rollenbilder sind einfach so krass hoch. Es fühlt sich so an, als müssten alle zu jeder Zeit alles machen. Ich muss arbeiten und die Familie mit Geld versorgen und gleichzeitig ein präsenter Vater sein. Und Elif soll die sorgende Mutter sein, aber trotzdem Karriere machen, gut gelaunt auf dem Spielplatz rumhängen, zum Elternabend gehen, kochen, aber sich selbst nicht aufgeben. Wie soll das gehen!?
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